Wie ich nach Pécs kam
Wenn mich jemand fragt, was ich denn so mache, bekommt er die ehrliche Antwort: “Ich studiere Medizin in Pécs, in Ungarn.” Die Reaktion des Gegenüber schwankt dann meist zwischen Ungläubigkeit, Schockiertheit oder vollem Respekt. Die zweite Frage ist dann meist das Warum: “Warum denn in Ungarn? Warum nicht in Deutschland? Ist das nicht schwer?”
Warum Pécs?
Bis jetzt habe ich immer alles durchgezogen, was ich mir vorgenommen habe. Darum bin ich jetzt auch hier, hier im Süden von Ungarn in Pécs, weil ich Medizin studieren wollte und ewig in Deutschland auf einen Platz hätte warten müssen. Das wollte ich aber nicht. Deshalb Ungarn, deshalb Pécs.
Diese Stadt, die auch unter dem Namen Fünfkirchen bekannt ist, liegt am Fuße des Mecsek-Gebirges vor der kroatischen Grenze und ist das Zentrum der sogenannten Donauschwaben. Sprich im Großen und Ganzen spricht vor allem die ältere Generation hier sehr gut Deutsch und unter meinen ungarischen Kommilitonen sprechen ebenfalls sehr viele gut Deutsch. Es ist also kein Zufall, dass die Medizinische Fakultät der Universität Pécs seit 2004/2005 auch einen deutschen Studiengang in Humanmedizin und Zahnmedizin anbietet. Natürlich auch wegen der Tatsache, dass vielen deutschen Bewerben oft jahrelang die Möglichkeit verwehrt wird, ihr Wunschstudium zu beginnen. Aber das ist erst einmal nicht Thema.
Jedenfalls wäre ich wohl kaum auf die Idee gekommen, dass ich irgendwann einmal in UNGARN Medizin studieren würde. Ich hätte wohl jedem den Vogel gezeigt, wenn er mir dies vorhergesagt hätte! Nach dem Abitur fühlt man sich stark, für alles gewappnet, als würde die Zukunft nur auf einen warten, als könnte man die Welt ändern. Ich zumindest war mit meinem soliden 1,8 Durchschnitt fest darauf fixiert gleich nach dem Abitur mit meinem Traumstudium zu beginnen. Ich hatte bereits ein zweiwöchiges Sommerpraktikum im Jahr davor gemacht und hatte ab da nur umso mehr an mir, meinen Noten und nicht zuletzt am Gesamtdurchschnitt hart gearbeitet. Ich wollte es auf jeden Fall! Am besten sofort! Aber die Ernüchterung kam nach einem schönen Sommer Anfang September prompt: Ablehnungsbescheid! Jeder, der ebenfalls schon mindestens einmal so sehr auf eine Zulassung gehofft hat und dann bitter enttäuscht wurde, wird verstehen können, wie niederschmetternd, enttäuschend und frustrierend dieser Wisch von Hochschulstart sein kann.
Alternativplan: Erfahrungen sammeln
Aber ich hatte einen Plan B: Vor einem potenziell-möglichen Sommersemester würde ich das dreimonatige Pflegepraktikum absolvieren und so hoffentlich auch nochmals in meinem Vorhaben bestärkt werden. Vorher musste ich aber noch einen sehr langweiligen, ja fast einsamen Monat in meiner Heimatstadt verbringen, denn all meine Freunde hatten ab September schon ihr Studium oder ihre Ausbildung begonnen und ich dummes Liesel saß fest! Ich kann mich erinnern, dass ich sogar mal aus purer Langweile spontan unsere Küche neu gestrichen habe! Jedenfalls war der Start des Pflegepraktikums mir so sehr willkommen, wie einem Verdurstetem in der Wüste ein Glas Wasser. Endlich arbeiten, endlich was tun, endlich wieder aktiv sein!
Und diese Zeit war gerade auch wegen der vorangegangen Ödnis einfach wunderbar. Von Oktober bis Anfang Januar war ich in meinem ortsansässigen Kreiskrankenhaus auf der Station 9 – Wachstation, dass heißt, wir hatten vorrangig frisch operierte Patienten oder Stürze zur Bewachung für mindestens 24 Stunden oder länger bei uns. Ich habe hier sehr viel gelernt, was die Pflege und den Umgang mit Menschen angeht; Schönes, aber auch die Schattenseite erlebt. “Lerne mit den Augen”, hatte mir meine Stationsleiterin einmal gesagt, “klaue mit den Augen, schau es dir ab.” Schon bald war ich ein unverzichtbarer, wenn auch zusätzlich geplanter Bestandteil des Pflegepersonals, durfte mit auf die Stationsweihnachtsfeier und war auch einmal direkt bei einigen Operationen dabei. Mir hat es dort so gut gefallen, dass ich dort nach Ende meiner Praktikumszeit gerne als Freiwilliges Soziales Jahr weitergemacht hätte. Aber das war aus mir unergründlichen Tatsachen nicht möglich. Was also tun?
So so kam ich auf die Idee in ein Altenheim zu gehen. Viele schauen an der Stelle immer etwas irritiert: “Was, so ganz freiwillig?” Ich hatte im Krankenhaus öfters mit Demenzkranken gearbeitet bzw. hatte ich es recht erfolglos versucht. Ich konnte damit nicht umgehen, damit nicht arbeiten. Also wo würden ich damit wieder konfrontiert werden?
Dank guter Beziehungen bekam ich ein Vorstellungsgespräch für einen Platz als Freiwilligenhelfer im Rahmen des Freiwilligen Sozialen Jahres. Und begann ich dann direkt nach meinem letzten Arbeitstag im Krankenhaus im Seniorenheim. Auch hier war die Arbeit zwar ebenso anstrengend, aber viel mehr durch persönliche Beziehungen zu einzeln Heimbewohnern geprägt. Denn vorher kannte man für ein paar Tage oder Stunden die Patienten der Station, aber hier waren die Bewohner ja immer da. Es war eine schöne Zeit, wenn auch anstrengend. Nicht die Arbeit, sondern wenn ich nachmittags wieder nach Hause ging, hieß es für den TMS lernen, büffeln, wahrhaftige Trainieren und diverse Bewerbungen schreiben. Ich hatte mich neben Studienplätzen in Deutschland für das Sommersemester auch für ausländische Unis beworben. So stand ich schon in Graz, Prag, Pilzen, Brno, Budapest und eben Pécs auf der Bewerber- und Auswahltestliste. Parallel war ich dann noch auf einigen Vorstellungsgesprächen für Ausbildungen zur Krankenschwester bzw. Operationsstechnische Assistentin, denn einen Plan B zu haben erschien mir doch als sehr sinnvoll. Und dann völlig unvorhergesehen und noch vor der angegebenen Frist hatte ich eine Email von der Universität Pécs in meinem Postfach! Ich glaube, ich habe mich noch nie so über etwas gefreut, wie in diesem Moment. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich heulend vor dem Laptop saß und mich zu beruhigen versuchte. Denn wenn ich so aufgelöst vor meine Eltern treten würde, glaubten sie sicherlich, dass etwas schreckliches passiert sein müsse oder jemand gestorben wäre. Alles beruhigen half jedoch nichts und ich bin trotzdem zu meinen Eltern und die eben beschiedene Situation ist genau so eingetreten.
Der Aufbruch nach Pécs
Ab diesem Moment war mir aber auch klar, dass sich nun mit einem Schlag alles ändern würde. Ich würde nicht nur einfach von zuhause ausziehen, nein, ich würde dazu noch gleich mal eben das Land über drei Staatsgrenzen verlassen, ich würde eine völlig fremde Sprache lernen müssen und ich würde alle meine Freunde und Familie zurücklassen. War es das denn überhaupt wert? Dieser Zweifel nagte an mir, als wir in den Sommerurlaub fuhren, während ich eine WG suchte, während ich meine Sachen packte, während ich die Route nach Pécs plante und während ich zur Autobahnraststätte fuhr, wo ich meine zukünftige Mitbewohnerin treffen würde. Ab da hieß es dann auf den Weg fokussieren und ankommen. Das allemal haben wir zwei Verrückten gut geschafft, allerdings habe ich wohl bis dahin noch nie mein Auto so überladen gehabt, denn ich bin nur mit Seitenspiegeln gefahren und so lange für die 900 Kilometer lange Strecke gebraucht- 12 Stunden! In Pécs selber trafen wir dann unsere dritte zukünftige Mitbewohnerin und unseren Vermieter. So wurde nach einer kurzen Besichtigung der Mietvertrag unterzeichnet und ausgepackt.
Und dann stand ich auf unserem Balkon mit Blick auf die Innenstadt von Pécs. Ich kann mich daran noch so gut erinnern: eine milde Abendluft, die Sterne und fernen Lichter flackerten noch von der Bodenwärme und mir wurde bewusste, dass jetzt und hier ein völlig neues Leben beginnen würde. Das tat es auch prompt am nächsten Morgen, Infoveranstaltungen, Willkommensvorlesungen, Immatrikulation und Kurswahl, so schnell wird man Student. Und am Montag des Studienjahres 2013/2014 würden wir feierlich immatrikuliert.